Republikaner, sogar die Demokraten und Donald Trump sowieso – alle machen jetzt gegen den finalen Ausbau der Ostseepipeline von Russland nach Deutschland mobil. Offiziell sorgt man sich um Europas Abhängigkeit. In Wahrheit steckt wohl ein anderes Ziel dahinter.
Die „Akademik Tscherski“ hat eine lange Reise hinter sich: Sie lief im Februar aus dem Hafen von Nachodka im Osten Russlands aus, fuhr dann um die Südspitze Afrikas herum und machte in diesem Monat auf Rügen fest, im Hafen von Sassnitz. Dort bereitet die Mannschaft eine Mission vor, die weltpolitische Bedeutung hat. Ihr Schiff soll auf dem Grund der Ostsee den letzten Teil der Pipeline Nord Stream 2 verlegen, durch die Russland Erdgas nach Deutschland strömen lassen will – ein Projekt, das Amerika zu stoppen versucht.
Mehrere Senatoren, angeführt von dem Republikaner Ted Cruz, fordern weitere Sanktionen gegen Nord Stream 2. Vor einem halben Jahr kündigte die US-Regierung schon an, alle Firmen zu bestrafen, die an der Leitung bauen. Die schweizerische Reederei Allseas, bis dahin im Auftrag der Russen tätig, zog ihr Spezialschiff aus der Ostsee ab – was Moskau zwang, die „Akademik Tscherski“ um die halbe Welt zu schicken.
Die nun geplanten US-Sanktionen richten sich auch gegen Unternehmen, die Schiffe für unterstützende Arbeiten stellen, etwa zum Ausheben von Gräben für die Pipeline. Sogar Firmen, die solche Schiffe nur versichern, drohen Strafen. Der Streit um Nord Stream 2 spitzt sich damit zu. Mit der Leitung, argumentiert die US-Politik, mache sich Berlin erpressbar. Deutschland drohe „Moskaus Geisel“ zu werden.
Die USA schlagen eine Alternative vor: Erdgas aus Texas, Alabama oder Oklahoma statt aus Sibirien. Man wolle, wirbt das Energieministerium, „Moleküle der Freiheit“ über den Atlantik schicken. Von „Freedom Gas“ ist die Rede. Die Senatoren um Ted Cruz betonen, Europas Energiesicherheit stehe auf dem Spiel.
Und ihr Vorstoß dürfte Erfolg haben, denn auch die Demokraten wollen Nord Stream 2 verhindern – und Präsident Donald Trump sowieso. Aber sorgen sich die US-Politiker wirklich allein um die Unabhängigkeit der Deutschen? Oder wollen sie ihnen, wie manche Experten glauben, bloß mehr amerikanisches Gas verkaufen?
Europa soll seinen Energiebedarf endlich mit US-Gas decken
„Trump hat wohl einen Hintergedanken“, sagt Giovanna De Maio von der Washingtoner Denkfabrik Brookings. Es gehe dem Präsidenten nicht allein darum, die Nato-Verbündeten vor den Launen Wladimir Putins zu schützen. „Er möchte die europäischen Länder auch dazu bewegen“, meint De Maio, „ihren Energiebedarf mit Gas aus den USA zu decken.“ Wenn das stimmt, dann vertraut Amerika hier nicht den Kräften des Marktes – sondern will mit Drohungen nachhelfen.
Auch Ted Cruz, der Mann hinter den neuen Sanktionen, dürfte sich nicht zuerst um Deutschland sorgen. Wahrscheinlicher ist, dass der Senator die Wirtschaft seines Bundesstaates Texas im Sinn hat. Dort, im Permian-Becken, wurde im vergangenen Jahr neues Gas entdeckt. Und dafür müssen nun Käufer gefunden werden. Die Region ist inzwischen zum zweitgrößten Gasproduzenten der USA aufgestiegen, nach dem riesigen Appalachen-Becken, das sich von New York bis Alabama erstreckt.
Trump und Cruz, in den Vorwahlen von 2016 noch Gegner, vereint nun der Kampf gegen Nord Stream 2. Amerika, so lautet ihr Plan, soll zur Gasweltmacht aufsteigen. Bisher ist Australien der größte Exporteur. Das Land verschiffte im vergangenen Jahr Schätzungen zufolge 77,5 Millionen Tonnen. Auf Platz zwei liegt mit 75 Millionen Tonnen Katar. Amerika folgt erst auf Platz drei. Die US-Förderer verkauften 34 Millionen Tonnen Gas, also nicht einmal halb so viel wie die Topproduzenten.
Das will Trump ändern. Er versucht, Amerikas Gasindustrie wettbewerbsfähiger zu machen. Der Präsident lockerte zum Beispiel Umweltauflagen und beschleunigte Genehmigungsprozesse, damit schneller neue Bohrtürme errichtet werden können. Die Branche ist ihm wichtig. Denn in diesem Jahr wird in Amerika gewählt – und die Gasfirmen und ihre Arbeiter zählen zu Trumps wichtigsten Unterstützern.
Volle Gas-Lager halten den Preis unten
Trumps Plan scheint zu funktionieren. 2018 stieg die US-Gasproduktion um 13 Prozent, 2019 um elf Prozent. Aber die Firmen förderten zu viel. Das Angebot übertrifft nun die Nachfrage, die Preise sind deshalb niedrig. 28 Kubikmeter Gas oder eine Million BTU – in dieser Einheit wird der Rohstoff gehandelt – kosten seit Jahresbeginn weniger als zwei Dollar. Schuld ist auch das Coronavirus, das die halbe Weltwirtschaft zum Stillstand brachte. Aber anders als der Ölpreis, der mit dem Beginn der Pandemie ebenfalls einbrach, hat sich der Gaspreis bisher nicht erholt.
Amerikas Tanks füllen sich. Anfang Juni befand sich ein Drittel mehr Gas in den Lagern als ein Jahr zuvor, wie Daten der US-Behörden zeigen. Das Land muss dringend neue Abnehmer finden – und hofft auf Europa. Aber dort hat Gazprom das Sagen. Russlands staatlicher Energiegigant und Eigentümer von Nord Stream 2 deckt 40 Prozent des Bedarfs ab. Die USA liefern weniger als 15 Prozent.
Die Russen sind im Vorteil, sie können ihre Moleküle durch Pipelines pumpen, die Amerikaner müssen sie mit Tankern über den Atlantik fahren. Das ist aufwendig und teuer. Das Gas muss in den US-Häfen stark heruntergekühlt werden, auf minus 162 Grad Celsius, damit es sich verflüssigt. Erst dann kann man es sicher transportieren. Liquefied Natural Gas heißt das Produkt, kurz LNG.
Von der Öffentlichkeit oft unbemerkt sind diese drei Buchstaben zu einem zentralen Thema der Ära Trump geworden. Amerikas Präsidenten setzten sich schon immer für die Produkte ihres Landes ein. Einige förderten den Verkauf von Boeings, andere den von Sojabohnen. Aber die Vehemenz, mit der Trump für LNG kämpft, ist ungewöhnlich.
Und plötzlich taucht ein Fonds namens STIF auf
Dennoch wird er Nord Stream 2 kaum noch stoppen können. Russland steht kurz vor dem Ziel, 2300 von 2460 Kilometer Pipeline sind fertig. Die „Akademik Tscherski“ muss also gerade einmal 160 Kilometer verlegen. Und das Schiff dürfte bald auslaufen, trotz der geplanten neuen Sanktionen. Denn Russland hat offenbar einen Weg gefunden, sie zu umgehen.
Bis vor Kurzem gehörte die „Akademik Tscherski“ Gazprom – ein Risiko für den Konzern, denn so könnte er von den US-Strafen getroffen werden. Aber dann übernahm ein dubioser, nur in Russland aktiver Fonds namens STIF den Kahn. Gazprom hat dort wohl die Kontrolle, vermuten Experten, aber für die amerikanischen Behörden wird das kaum zu beweisen sein.
Wenn das stimmt, dann könnte Gazprom die Leitung zu Ende bauen, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. Nur eines scheint das Unternehmen jetzt noch bremsen zu können. Und das hat wenig mit Weltpolitik zu tun. Im Juli und August wird die „Akademik Tscherski“ wohl noch im Hafen von Rügen bleiben müssen – zu dieser Zeit sind Arbeiten in der Ostsee weitgehend verboten, weil der Kabeljau laicht.
