Die Türkei hat sich in Syrien in eine fast aussichtslose Lage manövriert. Der Militär-Experte Gareth Jenkins erklärt Erdogans große Fehler. Dass dieser sich von Russland habe zwingen lassen, auf den Einsatz der türkischen Luftwaffe zu verzichten, sei „mörderisch“.
Der in Istanbul lebende Türkei-Experte Gareth Jenkins sieht im Syrienkonflikt große Probleme auf das Land zukommen. Die viertgrößte Militärmacht der Nato habe grobe Fehler begangen und sei deswegen in eine Sackgasse geraten, aus der sie nur schwer herausfinden werde, meint Jenkins, der sich mit Büchern zum Militär und zum politischen Islam in der Türkei einen Namen gemacht hat.
„Das größte Problem ist die Deinstitutionalisierung der politischen Entscheidungsfindung“, meint Jenkins. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan entscheide seit Jahren nur noch allein und empfange kaum noch kompetenten Rat. So habe er in Syrien „Fehler begangen, welche das Militär aus eigener Erwägung wohl nicht begangen hätte“, sagt Jenkins.
Die Türkei hat ihre Truppen auf syrischem Staatsgebiet eingesetzt, habe sich aber von Russland zwingen lassen, auf jeglichen Gebrauch der türkischen Luftwaffe (und auch auf den Einsatz von Luftabwehrraketen) zu verzichten. Das sei mörderisch für die Truppen, da Syrien – von Russland ganz abgesehen – seine Luftstreitkräfte intensiv einsetze. „Erdogan hätte entweder den Einsatz seiner Luftwaffe durchsetzen oder auf den Einmarsch verzichten müssen“, meint Jenkins.
Türkisches Militär in der syrischen Provinz Idlib
Quelle: AFP/MUHAMMAD HAJ KADOUR
Die Türkei hat nur einmal versucht, mit F-16-Kampfflugzeugen in den syrischen Luftraum einzudringen. Das war, um die Evakuierung von Verwundeten durch Hubschrauber zu decken, nachdem ein syrischer (und russischer?) Luftangriff mindestens 36 türkische Soldaten getötet und Dutzende verletzt hatte. Russische Kampfflugzeuge drängten die türkischen ab, die Verwundeten mussten über Land evakuiert werden.
Ein weiterer Fehler sei es gewesen, im Zuge der syrischen Offensive in Idlib die am deutlichsten gefährdeten türkischen Beobachtungsposten nicht zurückzunehmen. Im Rahmen einer früheren Vereinbarung mit Russland unterhält die Türkei in der nordsyrischen Provinz zwölf „Beobachtungsposten“ – von denen aber mittlerweile vier von syrischen Kräften umzingelt sind. „Ohne politischen Druck hätten die Militärs selbst diese exponierten Posten wohl rechtzeitig zurückgenommen“, meint Jenkins.
Gleichzeitig verstieß die Türkei gegen Abmachungen mit den Russen, indem von Rebellengruppen, die von der Türkei unterstützt werden, immer öfter handgetragene Luftabwehrraketen gegen syrische und russische Flugzeuge eingesetzt wurden. Wohl auch als Reaktion darauf kam es am 27. Februar zu einem tödlichen syrisch-russischen Luftangriff auf einen türkischen Konvoi. Ankara verhängte eine Nachrichtensperre, drosselte das Internet und gab die Opferzahlen nur tröpfchenweise bekannt.
All das sah nicht gut aus, und so musste Erdogan handeln, um das Gesicht zu wahren – mit einer großen Offensive und einer gleichzeitigen Öffnung der Grenze zu Griechenland für Migranten, um, so Jenkins, „von Syrien abzulenken“.
Militärisch, so Jenkins, könne die Türkei die syrische Armee „leicht besiegen“. Auch Russland könne dem rein militärisch nicht viel entgegensetzen, denn dafür müsste Moskau einen massiven Einsatz von Truppen, Waffensystemen und Geld wagen, noch dazu ohne einen Landweg nach Syrien. Auch der Iran, der andere große Spieler in Syrien, sei gerade mit sich selbst beschäftigt – mit US-Sanktionen und den Folgen des Coronavirus. Im Prinzip könne also Erdogan versuchen, mit einem großen Schlag die Entscheidung zu suchen.
„Aber die Türkei hat nicht die Mittel, das ganze Land besetzt zu halten. Es gäbe dann einen Guerillakrieg, und das war schon den Amerikanern im Irak zu viel.“ Zudem besitze Russland drastische wirtschaftliche Druckmittel – von dort bezieht die Türkei ihr Erdgas. Und vom Iran, der das Assad-Regime unterstützt, sein Erdöl.
Langfristig, so Jenkins, müsse Erdogan entscheiden: „Entweder er muss einen Teil des Landes regelrecht annektieren oder sich ganz zurückziehen.“ Jenkins hält einen Rückzug mittelfristig für die wahrscheinlichere Lösung.
Die gegenwärtige Offensive diene vor allem der Gesichtswahrung, um einen Deal mit Putin in Würde zu ermöglichen. „Die werden wohl einen Waffenstillstand vereinbaren, wobei die Syrer die Kontrolle über die strategisch wichtige M5-Autobahn behalten würden.“ Türkische Truppen und verbündete Milizen hatten Teile dieser Straße blockiert, bevor sie in den vergangenen Tagen von syrischen Kräften zurückgedrängt wurden. Zudem würden Putin und Erdogan vielleicht eine „sichere Zone“ für Vertriebene vereinbaren.
Erdogan hatte in den vergangenen Tagen Russland aufgefordert, „abseits zu bleiben“, während türkische bewaffnete Drohnen, Raketen und Artillerie den syrischen Streitkräften massiven Schaden zufügten. Fast klang es so, als hole die Türkei zum entscheidenden Schlag gegen Assad aus: Erdogan sagte, „das syrische Volk“ habe die türkische Armee gerufen, und diese werde erst wieder gehen, wenn besagtes syrisches Volk entscheide: „Okay, dieser Job ist erledigt.“ Zuletzt hatte Erdogan aber gesagt, er hoffe, mit Putin einen Waffenstillstand erreichen zu können.
Eine solche Einigung, unweigerlich mit Geländeverlusten für die protürkischen Milizen verbunden, würde aber nicht reichen, um daheim als Sieger zu wirken, meint Jenkins. Das sei der eigentliche Sinn der Grenzöffnung zu Griechenland für Migranten: „Das Einzige, was Erdogan als Sieger aussehen lassen kann, ist sehr schnell sehr viel Geld von der EU.“ Er könne dann behaupten, den Europäern eine Lektion erteilt zu haben. Jenkins geht davon aus, dass die EU auch tatsächlich etwas anbieten werde – und dass Erdogan in relativ kurzer Zeit die Grenzen wieder schließen wird.